13.1.2022, 15 Uhr

„Mich hat Ihr Band außerordentlich beeindruckt“ – Franz Fühmann hilft Wolfgang Hilbig

Franz Fühmann

Franz Fühmann, dessen 100. Geburtstag die literarische Welt am 15. Januar 2022 begeht, ist heute vor allem als Erzähler und Essayist bekannt. Seine frühe Leidenschaft galt aber der Poesie, mit der er in jungen Jahren auch erfolgreich hervortrat. Zu seinen Förderern gehörte Georg Maurer, der als Lehrer am Leipziger Literaturinstitut Generationen von jungen Lyrikern das Handwerk vermittelte. Mit dem Ruf „Ecce Poeta“ begrüßte Maurer 1953 den ersten Gedichtband von Fühmann, eine Anerkennung, die den jungen Autor beflügelte, wenn er auch Ende der 1950er Jahre erkannte, dass die Lyrik nicht seine Ausdrucksform war und seine Kräfte nur für Nachdichtungen reichten. Gedichtbände mit Fühmanns Übertragungen von Milán Füst und Gábor Hajnal, František Halas und Vítězslav Nezval zeugen davon.

„Ecce Poeta“ rief Fühmann selbst immer wieder aus, wenn er in späteren Jahren die Gedichte von jungen und unbekannten Poeten entdeckte, die ihn überzeugten. Doch er beließ es nicht dabei, sondern half tatkräftig, ihnen die Bahn zu bereiten, wenn sie im autoritären Zensursystem der DDR an Schranken stießen. Neben Uwe Kolbe, Frank-Wolf Matthies und Lothar Walsdorf gehörte Wolfgang Hilbig zu den Autoren, denen Fühmann wichtige Hilfestellungen leistete.

Beide in Berlin lebend, kannten sich nicht, als Fühmann am 5. November 1979 an Hilbig schrieb. Es gehörte zu den Merkwürdigkeiten des literarischen Lebens in der DDR, dass Fühmann auf den ersten nur im Westen erschienenen Gedichtband von Hilbig mit dem sprechenden Titel abwesenheit (1979) während einer Lesereise im Westen hingewiesen wurde. Der Lektor seines Verlages Hoffmann & Campe, Hans-Jürgen Schmitt, hatte ihm den Band in die Hand gedrückt. Hilbig hätte als hart arbeitender Heizer im Arbeiter- und-Bauern-Staat jede Unterstützung erhalten müssen, doch weit gefehlt. Seine Gedichte waren nicht nur von den bekanntesten DDR-Editionshäusern, dem Aufbau-Verlag und dem Mitteldeutschen Verlag, abgelehnt worden, sondern die Zensurbehörden hatten die Veröffentlichung im S. Fischer Verlag verhindern wollen und den Autor mit einer Geldstrafe belegt, als ihnen das nicht gelungen war.

Fühmann schreibt: „Mich hat Ihr Band außerordentlich beeindruckt. […] Das sind Gedichte, [wovon es] heutzutage nur noch wenig[e] gibt.“ Und er bietet wie in anderen Fällen auch seine Hilfe an. Fühmann erreicht, dass Sinn und Form eine Auswahl von Gedichten veröffentlicht und Hilbig danach seinen Status als freischaffender Autor mit der notwendigen amtlichen Steuernummer begründen kann. Er verfasst eine Rede auf Hilbig, die er auf einer Veranstaltung zum 60. Geburtstag von Hans Marquardt halten will, dann nach Intervention des Reclam-Verlegers nicht vortragen darf, die dennoch mit Hilfe des Hinstorff Verlages publik wird und ihre Wirkung entfaltet. Bei Reclam Leipzig erscheint schließlich 1983 der Band Stimme, Stimme von Hilbig, aus heutiger Sicht scheinbar ein marginaler Vorgang, doch für den Autor trotz aller Anerkennung im Westen eine große Genugtuung.

Zu einer Freundschaft zwischen den beiden Autoren kam es dann nicht mehr, weil Fühmanns Lebensuhr überraschend früh am 8. Juli 1984 nach schwerer Krankheit ablief. Die letzten Jahre hatte er sich in Märkisch Buchholz in eine Einsiedelei am Waldesrand zurückgezogen, in der er seine literarischen Pläne verfolgte, nur vom Geschützdonner eines nahen Truppenübungsplatzes gestört. Zweimal war Hilbig dort zu Gast, doch ein intensiver Gedankenaustausch stellte sich nicht her. Wie Hilbig berichtete, verabschiedete ihn bspw. der Hausherr beim zweiten Mal schon nach kurzer Zeit, weil er zu arbeiten habe und es bei Hilbig im Moment gut laufe. Fühmann lebte nur für sein Werk.

In der Veranstaltung  „Franz Fühmann oder Literatur als Heilmittel gegen dogmatisches Denken“ am 18. Januar, sprechen Isabel Fargo Cole, Ingo Schulze und Gabriele Radecke darüber, warum dieser Autor in Zeiten politischer Polarisierung und dogmatischer Debatten so überaus aktuell ist. Kulturstaatsministerin Claudia Roth hält ein Grußwort.

Die Nachlässe von Franz Fühmann und Wolfgang Hilbig befinden sich im Archiv der Akademie der Künste.

Ansprechpartner: Carsten Wurm

Erster Brief von Franz Fühmann an Wolfgang Hilbig, 5. November 1979