6.3.2020, 10 Uhr

„Dieses Blatt für mich aufbewahren!“: Hedda-Zinner-Archiv vollständig erschlossen

Hedda Zinner: Der Frühling wird kommen, Rundfunkmanuskript, S. 1, Ufa, März 1943

Hedda Zinner (1905–1994) ist der größeren Öffentlichkeit heute weitgehend unbekannt. Dabei stand sie zeitlebens im Zentrum des literarischen Geschehens. Sie war Mitglied im „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“, trug am Ende der Weimarer Republik Songs und Gedichte auf Großveranstaltungen der KPD vor, wirkte als Schauspielerin und Autorin am Prager Exiltheater „Studio 1934“ mit und arbeitete für den deutschsprachigen Rundfunk in Moskau und Ufa. Nach der Rückkehr aus dem Exil wurde sie zur bekanntesten Theaterautorin der DDR, bis sie sich Mitte der 1960er Jahre ebenso erfolgreich der Prosa und dem Fernsehspiel zuwandte.

Aus der Fülle des Materials in den 72 Archivkästen des Hedda Zinner-Archivs lassen sich drei Themenkreise hervorheben.

Den ersten Kreis bilden die Rundfunkarbeiten, die Hedda Zinner über die Zeiten gerettet hat. „Dieses Blatt für mich aufbewahren!“, schrieb sie an den Rand des Gedichts „Der Frühling wird kommen“. Wie die meisten Emigranten wurden Zinner und ihr Mann Fritz Erpenbeck aus Moskau evakuiert, als die Wehrmacht im Winter 1941 vor den Toren der Stadt stand. Beide konnten die Arbeit für den Rundfunk in Ufa am Rand des Urals fortsetzen. Sie arbeiteten für den „Deutschen Volkssender“ und andere Sender, die vorgeblich aus dem Untergrund in Deutschland und verschiedenen besetzten Ländern ausgestrahlt wurden.

So gab es neben einem tschechischen und einem slowakischen Sender drei weitere deutschsprachige Anstalten: einen österreichischen, einen sudetendeutschen und einen „Sender der SA-Fronde“, der nach der Legende von Opponenten innerhalb der Organisation betrieben wurde. Die Sprache musste authentisch und dialektal echt klingen. Hedda Zinner, die als ausgebildete Schauspielerin manchmal selbst sprach, schrieb Gedichte, Glossen und Kommentare, mit denen die Zuhörer zum Umdenken veranlasst werden sollten. Als Schreibpapier benutzte sie Makulatur aus dem Sendebetrieb, darunter oft abgehörte Nachrichten von ausländischen Sendern über das Kriegsgeschehen in Russisch, Englisch, Deutsch oder auch Tschechisch. So finden sich auf der Rückseite von Der Frühling wird kommen Meldungen in russischer Sprache über das Vorrücken der russischen Truppen bei Woroschilow und Kursk im Vorfeld der Panzerschlacht um Kursk vom Frühsommer 1943.

Einen zweiten Themenkreis bilden Hedda Zinners Erinnerungen an ihre Jahre in Moskau, die sie nach gut fünfzehnjährigen Anläufen kurz vor dem Ende der DDR im Herbst 1989 unter dem Titel Selbstbefragung publizierte. Die verschiedenen Fassungen zeigen, wie schwer es der Autorin fiel, den richtigen Standpunkt zur Darstellung der stalinistischen Verbrechen zu finden und zugleich ihrem eigenen Erleben gerecht zu werden.

Der dritte Kreis dreht sich um Hedda Zinners Stück Ravensbrücker Ballade und das Verbot einer Inszenierung im DDR-Fernsehen zum 40. Jahrestag der Befreiung 1985. Das Stück handelt vom Schicksal der Frauen im KZ Ravensbrück und der Solidarität unter ihnen. Einspruch dagegen erhoben neben wenigen Betroffenen, darunter die Schwägerin von Volkskammerpräsident Horst Sindermann, einige Funktionäre des „Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer“. Der Streit ging darum, welches Bild von der KZ-Wirklichkeit vermittelt werden sollte: ein „Hohelied unseres antifaschistischen Kampfes“ oder eine komplexere Darstellung der Lagerstrukturen. Die Argumente von Hedda Zinners Unterstützern und Gegnern, zum Teil in Zinners letztem Buch Ravensbrücker Ballade oder Faschismusbewältigung in der DDR (1992) gedruckt, sind im Archiv gut dokumentiert.

Ansprechpartner: Dr. Carsten Wurm, Literaturarchiv