7.2.2019, 12 Uhr

Von diesem Buch geht eine seltsame Ermutigung aus: Ingo Schulze über Daniil Granins und Ales Adamowitschs Blockadebuch

Anlässlich des 75. Jahrestags des Endes der Leningrader Blockade lasen die Akademie-Mitglieder Volker Braun, Karin Kiwus, Jeanine Meerapfel, Ulrich Peltzer, Kathrin Schmidt, Ingo Schulze und Gustav Seibt am 31. Januar 2019 aus Daniil Granins und Ales Adamowitschs bewegendem Blockadebuch.

Ingo Schulze erklärt in seiner Begrüßung, warum dieses Buch so wichtig ist und berichtet von seiner Begegnung mit dem 2017 verstorbenen Akademie-Mitglied Daniil Granin. Hier können Sie die Begrüßungsrede nachlesen:

 

Vielen Dank, liebe Jeanine Meerapfel, vielen Dank an Sie, meine Damen und Herren, dass Sie gekommen sind. Auch ich möchte Frau Natalja Adamowitsch und Frau Marina Granina nochmals sehr herzlich begrüßen ...

Und ich möchte neben Marlies Juhnke und Andrea Doberenz auch Leonhard Kossuth wie auch Christina Links sehr herzlich begrüßen, die beide bei dem heute leider nicht mehr existierenden Verlag Volk und Welt gearbeitet haben, also bei dem Verlag, in dem das Blockadebuch zum ersten Mal auf Deutsch erschienen ist. Ebenso herzlich begrüßen möchte ich Helmut Ettinger, der zusammen mit Ruprecht Willnow das Blockadebuch ins Deutsche übertragen hat.

„Der Führer hat beschlossen, die Stadt Petersburg vom Antlitz der Erde zu tilgen“, heißt es in einer geheimen Direktive des Stabes der deutschen Kriegsmarine mit dem Titel Über die Zukunft der Stadt Petersburg vom 22.9.1941. „Es besteht nach der Niederwerfung Sowjetrusslands keinerlei Interesse an dem Fortbestand dieser Großsiedlung. (...) Es ist beabsichtigt, die Stadt eng einzuschließen und durch Beschuss mit Artillerie aller Kaliber und laufendem Bombeneinsatz dem Erdboden gleichzumachen. Sich aus der Lage der Stadt ergebende Bitten um Übergabe werden abgeschlagen werden. (...) Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teils dieser großstädtischen Bevölkerung besteht (...) unsererseits nicht.“

Kein Interesse am Fortbestand der „Großsiedlung“, kein Interesse an der Erhaltung „auch nur eines Teils dieser großstädtischen Bevölkerung“.

Die Blockade von Leningrad war ein geplantes Kriegsverbrechen.

Als Ales Adamowitsch seinen Kollegen Daniil Granin von der Notwendigkeit überzeugt hatte, die Überlebenden der Blockade zu befragen, wussten sie noch nicht, „welch barbarische Dinge sich hinter dem gewohnten Wort ‚Leningrader Blockade‘ verbergen. (...) Denn diese Menschen haben uns all die Jahre geschont. Doch wenn sie jetzt erzählen, schonen sie vor allem sich selbst nicht mehr.“

Es ist das alltägliche Leben unter Bedingungen, die mit Begriffen nicht zu beschreiben sind. Selbst konkrete Bezeichnungen bedeuten in unserem Sprachgebrauch etwas anderes. Das Brot war kein Brot mehr, wobei die Tagesration ohnehin nur 125 Gramm betrug, das Wohnen hatte alles Wohnliche verloren bei kaputten Fensterscheiben, ohne Heizung, ohne Strom, ohne Gas, ohne Wasser, bei bitterster Kälte und unter dem Beschuss von Artillerie und Flugzeugbomben. Deshalb braucht es diese Berichte, Berichte, die nur verständlich werden im Zusammenhang des damaligen Alltags, der aus zahllosen Nöten und Notwendigkeiten bestand.

Diejenigen, die überlebt haben, können aber auch Zeugnis ablegen von Solidarität und Würde, von intellektuellem und künstlerischem Leben und Widerstand. Deshalb erschüttert und schockiert dieses Buch nicht nur durch Art und Ausmaß des Leidens und der Entmenschlichung. Von ihm geht zugleich eine seltsame Ermutigung aus. Es ist das Staunen darüber, wozu Menschen trotz alledem fähig sind.

Die jeweiligen Erzählungen und Dokumente des Blockadebuch benennen zudem stets den physisch-psychischen Ort der Erinnerung. Adamowitsch und Granin beschreiben, was die Erfahrungen dieser 872 Tage in jenen anrichtete, die die Blockade überlebt haben. Es wird einem vor Augen geführt, welch fragiles Gebilde Erinnerungen sind und wie ganz und gar nicht selbstverständlich es ist, dass sie ausgesprochen und anderen Menschen anvertraut werden, obwohl es doch für die Betroffnen selbst notwendig ist, diese Erinnerungen zu teilen. Dieses Buch hat viele Autorinnen und Autoren, hinter denen wiederum andere sichtbar werden, die die Blockade nicht überlebt haben oder danach verstorben sind. Die Leistung von Ales Adamowitsch und Daniil Granin besteht darin, das Vertrauen ihrer Gesprächspartner gewonnen und deren Erfahrungen erzählbar gemacht zu machen. Sie selbst beschreiben, was das für sie persönlich zur Folge hatte. Die Qualen wie auch die vielen Arten der Auflehnung gegen die Vernichtung werden in diesem Buch auf eine für Leser mögliche Weise nachvollziehbar. Adamowitsch und Granin war es gelungen, die Veröffentlichung, wenn auch unter Einbußen, durchzusetzen. Die gestrichenen Stellen betreffen vor allem das Kapitel über den stalinschen Terror wie auch besonders drastische Schilderungen. Der Gesamteindruck der Aufzeichnungen ändert sich dadurch nur wenig.

In Deutschland kennen viele Ales Adamowitsch als Romanautor, berühmt machte ihn hierzulande, zumindest im Osten, der Film Geh und sieh von 1985, zu dem er das Drehbuch schrieb. Ales Adamowitsch war 1988 einer der Mitbegründer von „Memorial“, um nur eine seiner zahlreichen gesellschaftspolitischen Aktivitäten zu erwähnen. Die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen, ist eine literarische Tradition, für deren Ausprägung in Weißrussland und der Sowjetunion Ales Adamwotischs Arbeit kaum zu überschätzen ist. In ihm darf man auch einen der Wegbereiter für eine Autorin wie Swetlana Alexijewitsch sehen.

Daniil Granin war und ist auch in Deutschland einer der bekanntesten und vielgelesenen russisch-sowjetischen Schriftsteller und war seit 1986 Mitglied der Akademie der Künste in Ostberlin und dann der vereinigten Akademie.

Für den Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2014 war Daniil Granin nach Berlin eingeladen worden, um vor dem Deutschen Bundestag zu sprechen. Einen Tag zuvor besuchte der 95-Jährige seine Akademie. Er sprach Deutsch, ein sehr schönes Deutsch. Sein freundliches, offenes Gesicht verfinsterte sich nur, wenn er sich durch die Journalisten gestört fühlte. Er freute sich, sein Bild auf dem Plakat der Mitglieder der Akademie zu sehen. Er gehörte dazu. Wir luden ihn ein, seinen jüngsten Roman Mein Leutnant in der Akademie vorzustellen, sobald die deutsche Übersetzung erscheinen würde.

Tags darauf sprach er im Deutschen Bundestag, und er sprach, wie er selbst formulierte, als Soldat. In seinem schon etwas zu groß gewordenen Anzug, ohne Krawatte, wollte er am Rednerpult stehen und wehrte mehrfach die seine Rede unterbrechenden Versuche ab, ihm einen Stuhl anzubieten. Er ersparte sich und den Zuhörern nichts. Und er sprach von seiner Erfahrung mit dem Hass, ohne versöhnlerisch zu werden.

„Ich, der ich als Soldat an vorderster Front vor Leningrad gekämpft habe, konnte es den Deutschen sehr lange nicht verzeihen, dass sie 900 Tage lang Zivilisten vernichtet haben, und zwar auf die qualvollste und unmenschlichste Art und Weise getötet haben, indem sie den Krieg nicht mit der Waffe in der Hand führten, sondern für die Menschen in der Stadt Bedingungen schufen, unter denen man nicht überleben konnte. (...) Heute sind diese bitteren Gefühle von damals nur noch Erinnerung.“

Nach der Veranstaltung kam es zu einer Begegnung zwischen ihm und Helmut Schmidt, der als deutscher Offizier auch vor Leningrad stationiert gewesen war.

Helmut Schmidt schrieb ein Vorwort für die deutsche Ausgabe von Mein Leutnant, in der Akademie waren bereits die Karten für die Veranstaltung verkauft, in der die beiden das Buch gemeinsam vorstellen wollten.

Ich habe dem geplanten Gespräch zwischen Daniil Granin und Helmut Schmidt damals mit großer Freude und Erwartung entgegengesehen, aber auch mit Bangigkeit. Es war die ausgestreckte Hand von einem ehemaligen Soldaten und Offizier der Roten Armee, der sein eigenes Überleben als ein Wunder betrachtete. Wer das Blockadebuch liest, kann erahnen, welchen Großmut es dafür bedarf. Und wie schwer es ist, darauf angemessen zu reagieren.

Durch einen unglücklichen Sturz Granins wenige Wochen vor der Veranstaltung in der Akademie der Künste musste die Reise abgesagt werden. Leider war danach das Reisen nicht mehr möglich.

Das Bedauern, das ich empfand, dass es nicht zu dieser öffentlichen Begegnung kam, begleitet mich.

Ich darf sagen, dass diese Veranstaltung von Anfang an eine Sache der ganzen Akademie gewesen ist. Indem wir vor Ihnen, die unserer Einladung gefolgt sind, Ausschnitte aus dem Blockadebuch lesen, hoffen wir, dass dies als ein Zeichen, als eine Geste aufgenommen wird, dass wir uns unserer Verantwortung bewusst sind für das, was im Namen Deutschlands verübt worden ist. Wir können hier und heute nicht auf das Wissen verzichten, das aus diesem unermesslichen Leid entstanden ist. Und wir hoffen und wünschen, dass diese Verantwortung und dieses Wissen in dem, was wir persönlich tun, aber auch in dem, was unser Land als Politik verfolgt, stets präsent bleiben möge. Wir möchten aber auch unseren verstorbenen Kollegen Ales Adamowitsch und Daniil Granin damit danken, weil sie, die eigene künstlerische Arbeit zurückstellend, eine Aufgabe übernommen und bewältigt haben, ohne die dem Gedächtnis der Menschheit ein Teil fehlen würde.

Ingo Schulze