12.9.2018, 15 Uhr

Von der Spannung zwischen Erfundenem und Gefundenem: Friedrich Christian Delius über Ursula Krechels Geisterbahn

Am 6. September 2018 fand die Buchpremiere zu Ursula Krechels neuem Roman Geisterbahn in der Akademie der Künste statt. In seiner Begrüßung erklärt Friedrich Christian Delius, warum Krechels Texten eine „rationale Empathie" innewohnt.

Meine Damen und Herren, liebe Ursula Krechel, liebe Maike Albath,

im Namen der Sektion Literatur dieser Akademie der Künste begrüße ich Sie zum heutigen Premierenabend, zur Vorstellung von Ursula Krechels neuem Roman Geisterbahn.

Über den expressionistischen Dichter Alfred Ehrenstein hat Ursula Krechel einmal diesen Satz geschrieben: „Er hat einen nüchternen, klaren Blick, der lieber ins Trostlose starrt, als sich blauem Dunst und egomanen Träumen zu ergeben." In diesem Satz sah ein FAZ-Kritiker ein verstecktes Selbstporträt der Autorin, und im ersten Moment ist man geneigt zuzustimmen, denn ohne Zweifel verfügt Ursula Krechel über einen „nüchternen, klaren Blick" und ist weder für „blauen Dunst" noch für „egomane Träume" bekannt. Aber dass sie „lieber ins Trostlose starrt", kann man wahrlich nicht behaupten, im Gegenteil.

Ihr ganzes, vielfältiges, formen- und themenreiches Werk als Lyrikerin, Theaterautorin, Essayistin und Prosaautorin zeigt, dass sie das, was man das Trostlose nennen mag, nicht anstarrt, sondern beherzt und mit hellem Verstand anpackt und literarisch produktiv macht. Und das mit einem Mut und einer Beharrlichkeit und einer Aufrichtigkeit, für die sie mit Recht berühmt geworden und bei ihren Leserinnen und Lesern geschätzt ist. Da schließe ich ausdrücklich ihre feministischen Arbeiten und die essayistischen Entdeckungen und Rehabilitierungen großer Frauen und ein – ich meine also nicht nur die vielgepriesenen Romane.

Das Trostloseste ist nun einmal unsere jüngere deutsche Geschichte, und gerade der zweiten Generation, den Töchtern und Söhnen der Täter-Generation, kommt es zu, die finstersten Ecken an- und auszuleuchten und so die Leserschaft im guten, alten Sinn aufzuklären. Mit ihren letzten beiden Romanen hat Ursula Krechel das auf vorbildlichste Weise getan, nun setzt sie ihr großes Erzählprojekt fort.

Nach Shanghai fern von wo, der „Überlebenskatastrophe" jüdischer Emigranten in einer elenden „Arche Noah" in China lasen wir in Landgericht die Geschichte des von den Nazis vertriebenen, in der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik zum Scheitern verurteilten Richter Kornitzer.

In Geisterbahn greift Ursula Krechel noch einmal weit aus und erzählt von der Sinti-Familie Dorn aus Trier und anderen Figuren dieser Stadt. Mit dem Blick auf eine Schulklasse der Nachkriegszeit in Trier, Ursula Krechels Geburtsstadt, gerät nun die am wenigsten beachtete und auch nach 1945 am meisten verachtete Gruppe der Opfer der deutschen Schikanierungen, Verfolgungs- und Massenmordtaten in den Mittelpunkt, die einst Zigeuner genannten Roma und Sinti. In Geisterbahn sind das keine Fremden, sondern unsere Landsleute und Nachbarn.

Leserinnen und Leser von Ursula Krechel wissen, dass ihre Romane nicht allein von den unerhörten, sorgfältig recherchierten Stoffen leben. Diese Bücher verdanken vielmehr ihre Wirkung der Spannung zwischen dem Dokumentarischem und Fiktivem, zwischen Erfundenem und Gefundenem. Warum die Balance so gut funktioniert, liegt aus meiner Sicht als Leser an einer „rationalen Empathie" (Kirsten Voigt), mit der Krechel ihre Figuren und die eben erst vergangene Zeitgeschichte schildert. Noch genauer hat das die Kritikerin Verena Auffermann anlässlich Shanghai fern von wo beschrieben:

„Der erste kurze Satz des Buches endet mit einem Fragezeichen. ‚Was ist Tausig für ein Mensch?' Dieser Satz, diese zögernde Frage zeigt Skrupel und Interesse der Autorin, die wissen will, was dieser Tausig für ein Mensch war. Keine indiskreten Schicksalsuaden werden auf dem Papier abgelagert, der Ton, den sie für das Buch gefunden hat, ist ein Ton der Achtung. Er entgleist nicht, wird nie zu privat und ist doch persönlich. Keine nassforsche Rechercheurin katalogisiert fremdes Leben, eine Schriftstellerin verteilt Worte und Fragezeichen und bindet sie mit klugen Beschreibungen zusammen."

Das wurde vor zehn Jahren geschrieben, und es ist ein Glück für uns und die deutsche Literatur, dass diese Haltung und diese Kunst auch 2018 wieder zu loben und preisen sind.

Wir freuen uns, dass Ursula Krechel heute endlich ihren ersten öffentlichen Auftritt als Akademiemitglied in diesem Haus feiert. Und wir freuen uns, dass die erfahrene, vielseitige, hochintelligente und herzerfrischende Kritikerin Maike Albath mit auf die Bühne kommt und die Autorin befragen, herausfordern und ins Gespräch locken wird.

Friedrich Christian Delius