Panel II: Dekonstruktion – Digitale Welt

John Heartfield, Benütze Foto als Waffe (Selbstporträt mit Polizeipräsident Zörgiebel), 1929

Einleitung

Florian Ebner

Wenn John Heartfields Montagepraxis auf Zusammenprall und Konflikt, vor allem auf der Sichtbarkeit von politischen Gegensätzen und Verwerfungen beruhte, was passiert dann, wenn ein Großteil der Nahtstellen unserer heutigen Bildkultur nicht mehr im Sichtbaren, sondern im Funktionalen liegt? Wenn es heute nicht mehr nur darum geht, was auf dem Bild dargestellt ist, sondern welche Metadaten an den Bildern hängen? Wenn die Bilder flüssig geworden sind, wenn sich ihre Migrationen und Mutationen kaum noch nachvollziehen lassen? Wenn sie mehr und mehr lernen, sich an die Vorgaben neuronaler Netzwerke zu halten, und Algorithmen folgen, statt schlicht aufzuzeichnen?

In diesem Sinne ist die neue, bunte Allgegenwart der Bilder nicht weniger politisch und sozial relevant als es die Bilder im politischen Dienst der Zwischenkriegszeit gewesen sind. Doch was ließe sich aus John Heartfields Offenlegung des Montageprinzips für die heutige Bildkultur lernen? Die in diesem Panel zusammengestellten Beiträge denken über die montierende Bildpraxis unserer Zeit nach, sie verfolgen zurück, wie sehr die politische Wucht der Bilder ihren Ausgangspunkt auf den Straßen von Minneapolis oder South Carolina nimmt und über das Internet wieder zurück auf die Straßen von Berlin oder anderen Städten weltweit findet. Sie zeigen, wie sehr die Memes von heute – das visuelle Morphem unserer digitalen Kommunikation schlechthin – nicht nur Praxis des Widerstands von links, sondern auch der Agitation von rechts geworden sind; sie diskutieren, wie sehr der harte Schnitt oder vielmehr die weiche Montage, das morphende oder das navigierende Bild als „aktionsfähiges Bild“ unserer Zeit agiert, und wie sehr die montierten Bilder selbst zum Gegenstand unaufhörlicher Aneignungen und sich wandelnder Bedeutungen mutieren – wenn dieses partizipative Spiel nicht sogar schon auf den Seiten der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ) von 1937 und 1938 so vorgedacht worden ist, wie es ein Beitrag herausarbeitet. 

Florian Ebner ist seit Juli 2017 Chefkurator für Fotografie am Centre Pompidou in Paris, zuvor leitete er die Fotografische Sammlung im Museum Folkwang. Er hat zahlreiche Ausstellungen und Publikationen zur Fotografie der Moderne und zur zeitgenössischen Fotografie realisiert, 2015 war er Kurator des Deutschen Pavillons auf der Biennale in Venedig.

Mit Beiträgen von:

Virginia McBride (New York/New Brunswick):
Fenster oder Bildschirm? Der montierte Lieferwagen des MAGA-Bombers

Adam Broomberg (London/Berlin):
Afterlife

Doreen Mende (Berlin):
Der live geteilte Bildschirm

Alexander Schwarz (München):
Fotogenität, filmische Montage, Fake, Fortschritt?

Boaz Levin (Berlin):
„Der Leser als Fotomonteur“. Jenseits des Bildes als Virus

Kolja Reichert (Berlin):
Schnitt und Körperlichkeit. Wie lässt sich heute auf John Heartfield aufbauen?

Künstlerbeitrag: Anda Kryeziu (Kosovo/Berlin):
Schneiden und Schreien. Die Entstehung des multimedialen Werks co- als Hommage an John Heartfield

 

Moderation und Fragen: Florian Ebner


Virginia McBride (New York/New Brunswick):

Fenster oder Bildschirm? Der montierte Lieferwagen des MAGA-Bombers

visitor design, ohne Titel [Beifahrertüren], 2019, laminierte Aufkleber auf getöntem Glas (Ausschnitt)

Digitale Cut-and-Paste-Werkzeuge ahmen die Gesten der analogen Montage nach, doch online, wo es kaum noch möglich ist, ein Bild wirklich auf seine Ursprünge zurückzuverfolgen, ist das Medium kaum zu erkennen. Statt des den Kontext verändernden Schnitts (cut), den die modernistischen Vertreterinnen und Vertreter der Montage einsetzten, ist die operative Funktion der digitalen Montage das Einfügen (paste). Mittels Bilderkennung und -download setzen heutige Fotomonteure Bilder aus dem ganzen Internet zusammen und spüren den veränderten Implikationen nach, die sich daraus ergeben. Als Fallstudie betrachtet dieser Essay das visitor design-Projekt 2019, um die eigensinnige Meme-Montage des MAGA-Bombers Cesar Sayoc zu rekonstruieren.

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Fragen an Virginia McBride

In Ihrem Beitrag heben Sie sehr deutlich die Unterschiede hervor zwischen dem modernistischen Fotomonteur des letzten Jahrhunderts und der Art und Weise, wie der MAGA-Bomber Cesar Sayoc Bilder aus dem Internet verwendet und kombiniert. Sie kontrastieren den entkontextualisierenden, die Ordnung herausfordernden Schnitt mit dem Copy-Paste-Cut unserer täglichen Praxis, der bestehende Bedeutungen bestärkt, statt einen Sinneswandel herbeizuführen. Doch mit seinem politischen Gebrauch durch Cesar Sayoc und mit ihm Tausenden von anderen Verschwörungsideologen und ihrer Hassproduktion hat die Fotomontage das rechte Spektrum erobert. Wirft dieser rechte Flügel ein anderes Licht auf die Fotomontage, als diese gewissermaßen heilige Avantgardepraxis? Ist die Fotomontage, an sich eine subversive Form der bestehenden Ordnung, letztlich keineswegs immun gegen alle möglichen bescheuerten Viren? Diese Frage verweist also mehr auf die Ähnlichkeiten bei der Verwendung der Fotomontage als auf die Unterschiede, selbst wenn Heartfields Einsatz dieser Technik besonders virtuos war.

Kurz gesagt, ja. Das Medium bietet weiter Schablonen für eine subversive Gesellschaftskritik über das gesamte politische Spektrum hinweg. Insofern die Fotomontage eine formal dekonstruktive, dialektische Praxis ist, eignete sie sich für fortschrittliche Bewegungen und marginalisierte Gruppen. Doch die Neigung, Fotomontage (und Avantgardeästhetik im weiteren Sinne) als etwas per se Positives oder Tugendhaftes zu betrachten, ist – die Frage legt es bereits nahe – heute ebenso irreführend, wie es dies schon zu Heartfields Zeiten war.

Dass auch die politische Rechte dieses Medium verwendet, ist nichts Neues. Faschistische Regierungen und Korporationen nutzen die Fotomontage seit fast einem Jahrhundert. Natürlich unterscheiden sich ihre visuellen Strategien, und die fragmentarische, parataktische Syntax der Avantgarde hat bei der politischen Rechten weniger Fuß gefasst (obwohl sie sich in der Werbung großer Beliebtheit erfreut, deren Interessen sie offenkundig entgegenkommt). Doch konservative Montagen neigen stärker dazu, übereinstimmende ideologische Motive zu verschmelzen, wie man nicht nur bei Cesar Sayocs Meme-Montage sieht, sondern auch bei ihren autoritären Vorläufern (unter ihnen die gewaltigen deutschen und sowjetischen Fotowände der 1930er und 1940er).

Vielleicht ist das Neuartige an Sayocs Montagen, und in der Tat denjenigen vieler konservativer heutiger Nutzerinnen und Nutzer dieses Verfahrens, ihre uneingeschränkte Akzeptanz einer Außenseiterästhetik. Das Do-It-Yourself-Ethos des Mediums, das auf dem Plündern und Umfunktionieren gefundener Bilder basiert, hat Menschen, die aus den professionalisierten Feldern der bildenden Künste und des Grafikdesigns ausgeschlossen sind, schon lange angesprochen. Das grundlegend vereinfachte Meme-Format der Montage bietet sowohl einer randständigen und extremistischen Politik als auch populären Meinungen eine effektive Bildsprache. Für amerikanische Politikerinnen und Politiker hat sich dieses Medium bei Leitfiguren, die eine rechte Agenda mit den Interessen einer entrechteten Arbeiterklasse gleichsetzen, als höchst wirkungsvoll erweisen. Donald Trumps uneingeschränkte Akzeptanz des Memes hat zumindest teilweise dazu geführt, ihn von dem eher zum Establishment gehörenden Flügel seiner Partei abzusetzen. Wie das Projekt von visitor design zeigt, ist Sayocs erfindungsreiche Montagetechnik eher die Ausnahme. Doch heute wie schon zur Zeit der Moderne muss man die pauschale Gleichsetzung der Fotomontage mit populären Ausdrucksweisen skeptisch betrachten, nicht nur wegen der darin enthaltenen populistischen Unterstellungen, sondern auch wegen der implizierten Verflachung des Ausdruckspotenzials des Mediums.

Virginia Mc Bride ist Research Assistant am Department of Photographs des Metropolitan Museum of Art, und dort Ko-Kuratorin von Pictures, Revisited, einer Ausstellung über die Aneignung von Bildern, die derzeit in Vorbereitung ist. Außerdem ist sie Doktorandin im Fach Kunstgeschichte an der Rutgers University, New Brunswick, wo sie modernistische Fotografie analysiert. Im Rahmen ihres Forschungsschwerpunkts der sowjetischen und europäischen Fotomontage untersucht sie interaktive Arten der Verbreitung und Präsentation fotografischer Formen in der Zwischenkriegszeit.

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Adam Broomberg (London/Berlin):

Afterlife, 2000

Broomberg and Chanarin, Afterlife 8, 2000

Der Beitrag ist eine Reflexion über den Ursprung und die Herstellung der Serie Afterlife, einer Überarbeitung einer so ikonischen wie umstrittenen Fotoserie vom August 1979, welche die Exekution von 11 Kurden im Iran dokumentiert. Eine der Fotografien gewann damals anonym den Pulitzer-Preis.

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Fragen an Adam Broomberg

In Ihrem Werk „Afterlife“ schneiden Sie einzelne Bestandteile aus Fotografien aus, entnehmen sie ihrem ursprünglichen Kontext und bleichen bestimmte Elemente aus, um ihre Abwesenheit noch verräterischer zu machen. Ist diese Geste der Abstraktion, des Unsichtbarmachens eine Antwort auf die Überdeterminierung, die die Regel der fotojournalistischen Bildersprache ist – und übrigens in noch stärkerem Maße die Regel für die politische Aussage in Heartfields Fotomontagen?

Was wir gemacht haben, war eher eine mechanische Analyse und weniger eine politische Geste. Wir wussten, dass der Fotograf Razmi eine ganze Filmrolle verwendet hatte, um die Hinrichtung zu fotografieren. Und doch blieb uns aufgrund des von Ihnen beschriebenen Filtersystems der Medien nur solch eine myopische Sicht des Vorgangs. Das einzige Bild, das wir kannten, war diese eine Aufnahme, die im 125stel einer Sekunde und genau im selben Moment, in dem die Schützen feuerten, entstand. Ich erinnere mich, ein Interview mit Pierre Huyghe gelesen zu haben, in dem er seine Vorstellung eines perfekten Films beschreibt: eine Darstellung des Attentats auf Kennedy aus verschiedenen Blickwinkeln. Indem wir Abzüge von allen Bildern auf Razmis Film machten, wurde uns klar, wie sich der Fotograf um den Vorgang herumbewegt hatte. Man begreift, dass sich solche Vorgänge in der Zeit abspielen: Sie entfalten sich langsam und ungleichmäßig, nicht in einem perfekt komponierten einzelnen Moment.

Aber in Ihrem bahnbrechenden Werk „War Primer 2“, wo Sie Bilder aus dem Krieg der USA gegen den Irak auf Seiten von Bertolt Brechts „Kriegsfibel“ kleben, machen Sie und Oliver Chanarin sich doch eindeutig eine Heartfield’sche Haltung zu eigen. Sie konfrontieren oder aktualisieren sogar in einem gewissen Sinne Brechts Reflexionen über Gräueltaten der Kriegszeit, gespiegelt, gesteigert und verbreitet durch die Fotografie. Ist dieses Überfrachten der Bilder mit neuer Bedeutung eine Flucht aus der voyeuristischen Überdeterminierung der Fotografie?

Der Akt der Dislokation oder Verlagerung war der wichtigste Teil des Projekts. Es funktioniert, indem es Brechts Insistenz auf der Komplexität von Ereignissen und der Unfähigkeit der Fotografie damit umzugehen, wiederholt und verstärkt. Außerdem macht es deutlich, wie schnell die Technologie der Herstellung, Verteilung und Verarbeitung von Bildern sich verändert hat. Doch die Art und Weise, wie sie politisch funktionieren, ist immer noch so begrenzt, da sie vor allem als Währung in einer kapitalistischen Medienmaschine verwendet werden. Ich glaube, dass wir in eine neue und sehr interessante Phase eintreten, in der Heartfields Gesten sich möglicherweise in die Technologie des allgegenwärtigen Mobiltelefons integrieren lassen.

Adam Broomberg und Oliver Chanarin bilden ein Duo, das in seinen Werken journalistische und Dokumentar-Fotografie mit bildender Kunst verbindet. Zu ihren Auszeichnungen zählen der ICP Infinity Award (2014) für Holy Bible und der Fotografiepreis de Deutschen Börse (2013) für War Primer 2.

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Doreen Mende (Berlin):

Der live geteilte Bildschirm

Angela Y. Davis und Naomi Klein, Teach-In „Movement Building in the Time of the Covid-19 Crisis. A Left feminist perspective on 21st century racial capitalism in this moment“, 3.4.2020

Die Idee der Montage, wie John Heartfield oder Esfir Schub sie begriffen, ist mit Sicherheit nicht obsolet geworden. Wir sollten allerdings verstehen lernen, wie sich das computergenerierte, navigationale Bild der Souveränität des Rahmens entzieht, beziehungsweise warum seine Politisierung nicht bei einer strikten Opposition oder Gegenüberstellung vorgefundener Bilder stehenbleiben kann.

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Fragen an Doreen Mende

Meine Frage bezieht sich auf das Ende Ihrer Ausführungen, eine Frage, die unausweichlich ist: Wie könnten diese „möglichen Artikulationsformen und Methoden“ aussehen, die „die vielen in den Produktionsstätten der visuellen Kulturen Tätigen“ erstellen, wenn der Splitscreen selbst, den Teams und Zoom anbieten, Teil einer „fortschreitenden Neoliberalisierung der Bildung“ (und der Arbeit ist) geworden ist? Ist er auch Teil jener „language of the enemy“, die man sich aneignen oder besser ablehnen sollte? Muss man diese Strukturen mit anderen Inhalten füllen? Oder gilt es, andere Strukturen zu schaffen? 

Aus meiner Sicht geht es sowohl darum, vorhandene digitale Plattformen zu analysieren sowie mit monopol-kapital-unbequemen Inhalten zu füllen (im Zeitalter des Plattform-Kapitalismus eine Herausforderung), als auch darum, eigene Praxisformen der transkontinentalen Vernetzung zu schaffen. Das eine soll das andere nicht ausschließen. Denn die Gewalt der Koppelung von Macht an Kapital durch Technologie ist nicht nur komplex, sondern auch mehrere Jahrhunderte alt. Sie kann nur kollektiv, am besten auf verschiedene Weisen, auseinandergenommen werden. Dabei können wir annehmen, dass wir das in unserer Lebenszeit nicht mehr erreichen werden, so Angela Y. Davis in einem Gespräch im Juni 2018 in der Akademie der Künste in Berlin. Das lässt zum einen die Organisation von transgenerationalen Solidaritäten zwischen Menschen verschiedener sozialer Bewegungen wichtig werden; zum anderen adressiert es eine Politik der sprichwörtlich weltzirkulierenden Technologie, die den Splitscreens, gelikten und geteilten Bildern, den Livestreams, Video-Konferenzen, Teach-Ins, Webinars etc. innewohnt. Warum sollte das nicht auch das Rüstzeug für einen Internationalismus des 21. Jahrhunderts bieten?

Richtig ist die Einsicht, dass die Infrastrukturen von sozialen Medien trotz des Rufs nach Kollektivierung nach wie vor in imperiale Machtstrukturen eingebettet sind, an denen Kritik zu üben sich nur jene leisten können, die sich in Sicherheit wähnen. Denn wie wäre diese Problematik der 17-jährigen Schülerin Darnella Frazier zu erklären, deren Smartphone-Dokumentation des brutalen Mordes an George Floyd durch den Polizisten Derek Chauvin in Minneapolis am 25. Mai 2020, die von ihr auf Facebook veröffentlicht wurde, zu einer weltweiten Revolution der Black-Lives-Matter-Bewegung führte? Wie wäre es Mary Jo Laupp aus Iowa oder den Mitgliedern beziehungsweise den Fans der Teenie K-Pop Band Bangtan Boys aus Seoul plausibel zu machen, während ihre Aktion des „no-show protest“ auf der Plattform TikTok – im Sinne von: reserviere mit deiner Telefonnummer zwei Tickets für Donalds geplante Wahlkampfveranstaltung im BOK Center der Stadt Tulsa am 20. Juni 2020, aber gehe nicht hin – zum Erfolg führte und Tausende von Plätzen frei blieben? Wie unangemessen wäre es, einer palästinensischen Bild-Journalistin vorzuhalten, sie würde mit der Nutzung von Twitter „the language of the enemy“ nutzen, wenn diese aus einem Wohnzimmer in Gaza ihre visuelle Stimme als Betroffene der Bombardierungen von 2014 formuliert, indem sie Bilder über die ihr zugängliche digitale Massen-Kommunikation veröffentlichen kann, auch um sich der Deutungshoheit der Berichterstattung von europäischen Bildagenturen zu entziehen, wie es Oraib Toukan in ihrem desktop-Skype-essay When Things Occur (2016) darstellt? Selbst der Ruf nach Kollektivierung von Facebook konfrontiert nicht die Blindheit eines „techno-fetish activism,“ wie es Vinit Agarwal in seinem Beitrag für das Rosa Mercedes Journal #02 des Harun Farocki Instituts formuliert, in Hinsicht auf ökologisch-koloniale Infrastrukturen, auf denen das weltweite Netz (www) basiert.

Die Frage der Kritik ist deshalb nicht von der Frage nach Klasse, Privileg, Verortung und unvollendeter Geschichte zu trennen. Der Ruf nach einem „Selfie-Kommunismus“ (Jodi Dean) könnte dabei ein Mittel sein, dem Plattform-Kapitalismus die politische Größe der Masse als digital commons entgegenzusetzen. Bei diesem Mittel beziehungsweise dieser Strategie oder visuellen Praxisform darf es aber nicht bleiben. Denn „the master’s tool will never dismantle the master’s house“ – das Werkzeug des Herrschenden wird niemals das Haus des Herrschenden demontieren, wie es Audre Lorde in ihrer Aufsatzsammlung Sister Outsider 1984 ausführte. Mit anderen Worten, eine Entweder/oder-Antwort würde „einer tragischen Wiederholung von rassistischem, patriarchalem Denken“ nahekommen, wie es die schwarze, feministische und lesbische Poetin formulierte, die uns darauf hinweist, dass ein binäres Entweder/oder sich in einer moralischen Rolle subjektiver Urteilsfähigkeit zu erkennen glaubt. Stattdessen geht es darum, alle nur möglichen Ressourcen für Organisationsformen zur Verfügung zu stellen beziehungsweise zu unterstützen, welche die Kämpfe ganz unterschiedlicher Minderheiten für soziale Gerechtigkeit zu verbinden vermögen.

Doreen Mende ist Kuratorin und Theoretikerin, Professorin für Curatorial/Politics an der HEAD Genève/Schweiz und Ko-Direktorin (mit Tom Holert und Volker Pantenburg) des Harun Farocki Instituts. Zu ihren aktuellen kuratorischen Projekten zählt Worldmaking After Internationalism im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojektes Decolonizing Socialims. Entangled Internationalism in Kollaboration mit der Universität Basel, dem Kunstverein Leipzig, dem Van Abbemuseum Eindhoven und dem HKW Berlin.

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Alexander Schwarz (München):

Fotogenität, filmische Montage, Fake, Fortschritt?

Plakat zu Oktjabr, UdSSR 1928 (dt. Verleihtitel: Zehn Tage, die die Welt erschütterten)

John Heartfield griff in seinen Montagen auch auf Filmbilder zurück. Zur selben Zeit entwickelte die sowjetische Filmavantgarde ihre Montagetheorien über Neues Sehen, Faktografie und Abstraktion. Wie Heartfield wollten sie die „Gemachtheit“ ihrer Bilder offenlegen und damit aufklären. Selbst ihre Filmplakate sind auf diese Weise montiert. Heutige Möglichkeiten der Manipulation unterlaufen jedoch das Vertrauen in Bilder. Fakes sind als solche kaum mehr erkennbar, Montage wird nicht mehr offengelegt. Das birgt die Gefahr einer Krise von Authentizität und Wissen, mit gravierenden Auswirkungen für die Gesellschaft.

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Fragen an Alexander Schwarz

Sie gehen vom sowjetischen Film aus, setzen seine Techniken der Montage, seine Offenlegung des Faktografischen in Beziehung zu Heartfields Auffassung, die Dinge in gewisser Weise ebenso offenzulegen. Angesichts der von Ihnen konstatierten ontologischen Krise des heutigen Bildes: Wie könnte es gelingen, hinter die Mechanismen heutiger Bildkultur zu schauen? Wie ließe sich im Sinne Heartfields heute operieren, um eine Gegenkultur zu schaffen? Oder ist ein solcher Versuch ohnehin zum Scheitern verurteilt, weil er im Meer der Bilder untergeht. Wie sehen Ihrer Ansicht nach die Schneidewerkzeuge des heutigen Monteurs aus?

Die heutige Bildkultur des Festhaltens und Veränderns hat meines Erachtens zwei Ausprägungen. Da Digitalkameras und Smartphones immer zur Hand sind, entsteht eine weltweite private Bilderflut. Sie kann durch den Upload in Videoportalen und sozialen Netzwerken zum öffentlichen Bilderstrom werden. Technologischer Fortschritt verwischt die Grenzen zwischen Privatheit und Amateurhaftigkeit, Öffentlichkeit und Professionalität. Wirklichkeitsabbildungen scheinen jedoch nur dann etwas zu gelten, wenn viele andere Individuen sie rezipieren. Um in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit wahrgenommen zu werden, verändern, bearbeiten und kommentieren die Produzentinnen und Produzenten viele Bilder deutlich sichtbar mit Filtern, Layern oder Apps. Mitunter ist eine Nähe zur Montageintention Heartfields erkennbar.

Zudem entsteht durch die einfache Möglichkeit, Bilder und Videos aus dem Internet oder dem Fernsehen zu kopieren und festzuhalten, ein weiterer visueller Bildspeicher. Es ist die bekannte krude Mischung von Videos mit Attributen wie „Top-10“, „Best Fails“, „Schönste Filmküsse“ bis hin zu Ausschnitten aus Nachrichtensendungen oder Mitschnitten von Dashcams, Vorträgen etc. Hier bricht sich offenbar ein Bedürfnis Bahn etwas festzuhalten, zu wiederholen, hervorzuheben, das im Grunde wie ein Zitat oder Motto funktioniert. Durch die Autorität des präsentierten Materials vergewissert und erhöht man sich selbst und stützt die eigene Position. In diesem Bildspeicher wird durch die Gemachtheit der Bilder oder die Art der Darstellung mitunter auch eine Gegenkultur erzeugt.

Der zweite Trend in der Bildkultur, ebenfalls befeuert von der rasanten Entwicklung der Bildbearbeitung, ist jedoch gegenläufig. Dort steht zwar auch das Wahrgenommenwerden und Überzeugen im Vordergrund. Doch statt der Offenlegung der Faktur bedient man sich der Verschleierung und Herstellung „alternativer Fakten“, wie sie Trumps Entourage offensiv vertritt. Websites, die unter pauschalem Hinweis auf verbreitete Fake News selbst durch ständige Dekontextualisierung, Bildmanipulation oder suggestive Deutung Fakes produzieren, haben Hochkonjunktur. Sie versuchen einen neuen Mainstream von Daten zu erzeugen, deren Authentizität sich nicht mehr überprüfen, sondern nur noch behaupten lässt. Den Verlust des Augenscheins führen sie bewusst herbei, mit dem Argument, es sei die wahre Gegenkultur gegen die grundsätzlich irreführende Bilder- und Faktenwelt bisher dominanter Medien.

Versuche, dieser Demagogie und Bilderkrise etwas entgegenzusetzen, wirken noch etwas hilflos. Man kann mit Wasserzeichen operieren, Quellenangaben verlangen, Prinzipien journalistischer Ethik hochhalten oder technische Filter und Prüfungsmöglichkeiten für Schnitte, Manipulationen oder strafbares Verhalten entwickeln. Selbst Facebook und Google haben Mühe, dies in der Flut der Bilder aufrechtzuerhalten oder überhaupt erst zu installieren. Deshalb gilt es eher beim Bewusstsein der Bilderproduzentinnen und -produzenten anzusetzen, einen reiferen Umgang mit Bildern und Medien zu fördern, gesundes Misstrauen zu entwickeln und die Sprengkraft von Fälschungen und Manipulationen zu verdeutlichen. Und denen, die diese bewusst verwenden, immer wieder öffentlich Paroli zu bieten.

Was ist Ihre Lieblingsarbeit von John Heartfield und was war eine Entdeckung im Katalog?

Meine persönliche Wiederentdeckung im Katalog ist die Montage Heartfields zu Franz Jungs Die Eroberung der Maschinen (1923). Ich habe bei Hans Reimann nachgelesen: „Und seine tollste Leistung ist der Umschlag zu Jungs Eroberung der Maschinen: hier ist die in manchen Bildern des Panzerkreuzers Potemkin die Brust sprengende Spannung erzielt durch Browning, Faust und mystisches Maschinengerätsel mit dazwischen gekeiltem Dreieck in Rot. Hier hat einer begriffen, was Futurismus ist. Und Expressionismus. Und Ballung. Denn Heartfield ist wahrhaft expressionistisch – mit praktischem Hintergrund.“(1) Stimmt. Und Jungs Roman über die Märzkämpfe 1921 ist ebenso lesenswert.

 

(1) Hans Reimann, John Heartfield, in: Das Stachelschwein. Berlin 1927, S. 40. Nachdruck in Roland März (Hg.), John Heartfield. Der Schnitt entlang der Zeit. Selbstzeugnisse, Erinnerungen, Interpretationen. Dresden 1981, S. 233

Alexander Schwarz lebt als Filmhistoriker, Kurator von Filmreihen, Filmautor und Übersetzer in München. Er hat die Retrospektive der Berlinale 2012 über das russisch-deutsche Filmstudio Meschrabpom-Film und Prometheus, diverse Programme für das Filmmuseum München und das Goethe-Institut kuratiert. Seit 2017 übernimmt er Lehraufträge in Filmwissenschaft/Slawistik an der Universität Basel.

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Boaz Levin (Berlin):

„Der Leser als Fotomonteur“. Jenseits des Bildes als Virus

Die Leser als Fotomonteure, Blatt aus VI (Volks-Illustrierte) 13, 30.3.1938, Nachlass John Heartfield

Kann Heartfield uns beim Umgang mit den Herausforderungen und Widersprüchen unserer aktuellen visuellen und politischen Kultur helfen, die von Bildern, die in den digitalen Netzwerken kursieren, geradezu überschwemmt wird? Der Beitrag untersucht die Beziehung zwischen Heartfields Werk und den heutigen Memes im Licht eines Fotomontage-Preisausschreibens der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ).

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Fragen an Boaz Levin

Im Hinblick auf den ersten Teil Ihres Beitrags faszinieren mich Ihre Recherchen zum Preisausschreiben der „AIZ“ von 1937/1938, bei dem die Leserinnen und Leser eingeladen wurden, als Fotoredakteur und Fotomonteurin tätig zu werden. Ist dieses Beispiel eine Art kleine Archäologie der Mitwirkung der Leserinnen und Betrachter, und ist die Fotomontage eine besonders gut zur Mitwirkung geeignete Technik?

Ja, genau. Tatsächlich finde ich, wie Sie sagen, an Heartfields Arbeit und allgemeiner noch an der Arbeit der AIZ und ihres Kreises besonders interessant, dass sie versucht haben, so etwas wie eine „produktivistische Ästhetik“ zu realisieren: ein radikales Experimentieren mit dem emanzipatorischen Potenzial der massenmedialen und industriellen Bildproduktion. Auf diese Weise wird nicht nur deutlich, dass die Fotomontage eine stark partizipatorische Tendenz besitzt, sondern m. E. auch, dass sie ‒ das zeigen diese beiden Preisausschreiben sehr schön ‒ das Potenzial hat, die Grenze zwischen Produktion und Konsumtion tatsächlich zu verwischen.

Natürlich entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Leute wie Heartfield und Benjamin nicht vorausahnen konnten, dass das Verwischen von Grenzen, das sie für subversiv hielten, heutzutage von Unternehmen und sogenannten sozialen Netzwerken ausgebeutet wird, denen es in erster Linie darum geht, die Daten ihrer Kunden abzuschöpfen. Wenn man sich solche Preisausschreiben in einem kleinen medienarchäologischen Exkurs anschaut, kann man sich durchaus fragen, wie Mitwirkung jenseits von „Usern“ und „Memes“ aussehen könnte. Oder anders gesagt: Könnten wir von Heartfield und der AIZ lernen, wie man das Meme wieder politisiert?

Wie Kolja Reichert zu Recht zeigt, gibt es viele zeitgenössische Beispiele für das subversive Potenzial der Memes, die Heartfields Werk wiederholen, etwa das vor Kurzem veröffentlichte You About To Lose Your Job-Video. Doch das Faszinierende beim Rückblick auf die AIZ ist die Betonung nicht nur des Bildinhalts und seiner Zirkulation (das Meme), sondern auch der Mittel. „Wem gehören die Plattformen?“ ‒ die Produktionsmittel oder vielleicht die Mittel der Memes ‒, das war und ist die entscheidende Frage. Die AIZ war ein radikales Unternehmen, weil es ihr gelang, den Händen des Kapitals die Wirkungsmacht der Massenmedien zu entwinden; die Mitwirkung der Leserinnen und Leser diente also nicht dem Profit, sondern explizit politischen Zielen. Ein Teil der momentanen Schwierigkeiten scheint daher zu rühren, dass es wenig praktikable Alternativen zu Plattformen zu geben scheint, bei denen die Daten der Nutzerinnen und Nutzer abgeschöpft werden, sodass diese Bilder letztlich eine wesentlich ambivalentere Rolle in einer Aufmerksamkeitsökonomie spielen, als die, die Heartfield mit seinem Nutzung des Fotos als Waffe im Sinn hatte.

Sie betrachten Memes als eine Art systemeigene Form unserer heutigen partizipativen Kultur der „Nutzer“, doch zugleich benennen Sie ganz klar den Unterschied zu einer eindeutig politischen Verwendung von Bildern in Heartfields politischer Praxis. Ist diese immer wieder ihre Gestalt wechselnde und sich fortentwickelnde, sich ständig ändernde Struktur der Memes, die Sie anhand des HOPE-Memes veranschaulichen, eine langfristige Bereicherung seines semiotischen Charakters oder ein Verlust der ursprünglichen kontextuellen Bedeutung?

Ich würde sagen, die Antwort lautet, dass Werke wie D.H. Saurs Hope-Meme die Idee irgendeines stabilen Sinns der „ursprünglichen kontextuellen Bedeutung“ in Frage stellen.

Ein anderes Beispiel, über das nachzudenken sich in diesem Kontext lohnen könnte, ist die beeindruckende Arbeit von Forensic Architecture. Für mich ist ihr Werk eine interessante Fortsetzung von Heartfields Tradition, insofern sie ebenfalls auf einem rhetorischen Verständnis der fotografischen Bedeutung aufbauen. Vielleicht fügt dies Ihrer Frage noch einen weiteren Aspekt hinzu, der die Anreicherung des semiotischen Charakters des Bildes betrifft: In der Forensik entsteht Bedeutung durch die sorgfältige Konstruktion eines Arguments. Anders als bei der Annahme, dass ein Bild aufgrund eines gewissermaßen ontologischen indexikalischen Anspruchs einen dokumentarischen Wert hat, ist die Wahrheit hier ein sorgfältig (kunstvoll) inszeniertes Konstrukt.(1)

Was ist Ihre Lieblingsarbeit von Heartfield?

In gewisser Hinsicht sind die Preisausschreiben, die streng genommen gar nicht von Heartfield stammen, meine Favoriten, da sie das gewaltige Potenzial seiner Praxis demonstrieren, die über ihren Urheber hinausgeht. Darin liegt, wie mir scheint, ihre wahre Stärke. Doch wenn ich mich für ein Werk entscheiden müsste, so wäre es wahrscheinlich sein Umschlag für Sinclairs So macht man Dollars. Es zeigt sein Talent für Slapstick sowie seinen scharfen Witz; es ist brillant und lustig und könnte auch ein Entwurf von heute oder morgen sein.

Was war eine Überraschung bei dem Beitrag von Kolja Reichert oder eine Entdeckung im Katalog?

Es war faszinierend, Heartfields Arbeit über Vietnam sowie seine Bühnenbildentwürfe zu entdecken: Ob schwarz, ob weiß ‒ im Kampf vereint! fühlt sich so relevant an wie eh und je. Und es war großartig, in diesem Kontext Kolja Reicherts Überlegungen zu Arthur Jafa zu lesen.

 

(1) Um Thomas Keenan zu paraphrasieren, der den Künstler und Schriftsteller Oraib Toukan bezüglich der „Inszenierung von Wahrheit“ zitiert. Siehe Thomas Keenan, Getting the Dead to Tell me What Happened, in: Forensic Architecture(Hg.), Forensis, The Architecture of Public Truth. Berlin 2014, S. 51

Boaz Levin lebt und arbeitet als Filmemacher, Schriftsteller und Kurator in Berlin. Gemeinsam mit Vera Tollmann und Hito Steyerl ist er Mitbegründer des Research Center for Proxy Politics. 2018 war er Ko-Kurator der Biennale für Aktuelle Fotografie, und derzeit ist er Ko-Kurator der 3. Chennai Photo Biennale.

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Kolja Reichert (Berlin):

Schnitt und Körperlichkeit. Wie lässt sich heute auf John Heartfield aufbauen?

Instagram-Posts von DJs Suede the Remix God and iMarkkeyz zu Johnniqua Charles' Rap You about to lose your job, 4. Juni 2020

Die Möglichkeiten der Echtzeitübertragung von Fotografie und Video haben das Verhältnis von Bildern und Körpern grundlegend verändert. Memes, die zeitgenössische Entsprechung zu John Heartfields Fotomontagen, haben keine feste Autorin und produzieren fortlaufende Kontextverschiebungen, die Bildern ihre Macht nehmen können. Dadurch verändert sich aber auch deren Wirkweise: Die Motive behaupten ihre Bildmacht zunehmend unabhängig von der kontextuellen Rahmung. John Heartfields zentrales Motiv, der Schnitt, ist auch die virulenteste Form in der Gegenwartskunst. Als Beispiele werden diskutiert: das Werk des Künstlers Arthur Jafa, das virale Video You about to lose your job im Kontext der Black-Lives-Matter-Bewegung, und ein Plakatmotiv der Agentur Serviceplan für Der Spiegel, das mit der AfD-Politikerin Alice Weidel wirbt.

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Fragen an Kolja Reichert

Ihre drei Fragen, die sich im Nachdenken über John Heartfields Relevanz für die Gegenwart ergeben, definieren drei Filter: Zirkulation, Aktivismus und Kunst. Jener zur Kunst fällt mit dem Verweis auf Arthur Jafa und den Schnitt prägnant, aber sehr kurz aus. Ist die Kunst vielleicht gar nicht der Boden, auf dem Heartfields Lehre aufgeht (zu viel der Belehrung), die eher auf der Dissemination der Bilder und des Aktivismus fußt?

Über den Schnitt in der Gegenwartskunst könnten wir sicher lange sprechen. Die eigentümlich körperliche Wirkung von Henrik Olesens, Kara Walkers und Frida Orupabos radikal flachen Collagen. Simon Dennys Remontage ästhetischer und ökonomische Zusammenhänge, und ganz anschaulich seine Übertragung der Deckenfresken der Biblioteca Nazionale auf die Gepäckförderbänder des Flughafens Marco Polo für die Venedig-Biennale von 2015. Und die Filme von James Richards, die Bilder gegeneinander schneiden, zertrennen, spiegeln, überlagern. Dass ich es bei einem Beispiel beließ, war einerseits dem Platz geschuldet. Aber ja, so gefragt, könnte man natürlich neben John Heartfield unzählige weitere Gewährsleute für den Schnitt heranziehen, von Marcel Broodthaers über Hannah Höch bis Cornelis Gijsbrechts’ Malerei der Rückseite einer Malerei (Rückseite eines Gemäldes, 1670).

Ist John Heartfield anschlussfähig für die aktuelle Kunst? Am ehesten vielleicht tatsächlich als besonders scharfe historische Linse, durch die ein Abstand deutlich wird, so dass man die Gegenwart deutlicher in den Blick bekommt.

In Ihrem Kapitel zur Zirkulation arbeiten Sie am Beispiel des Memes der rappenden Johanniqua Charles heraus, wie das Zusammenwirken von Widerstand und Populärkultur eine körperliche performative und überaus wirkmächtige Bildpraxis schafft, die unmittelbar viral und vielfach adaptiert wird. Dies ist keine Montage im klassischen Sinn, aber man hat den Eindruck, dass die da handelnden Akteurinnen und Akteure gegeneinander geschnitten haben, in einem filmischen Sinn. Ist eine solche Medienpraxis die Überwindung der festgefügten Collage, die Überwindung der Stasis und der festgefügten politischen Polarisierungen, des Klebers und der Spritzpistole und die Übersetzung in etwas Neues?

Ja, das Faszinierende an dieser politisch-kulturellen Form ist die Lässigkeit, mit der sie daherkommt. Mir scheint hier Intuition die treibende Kraft zu sein: Wir probieren das jetzt aus, jetzt schneiden wir es mal so oder so zusammen, und es passt. Das Ergebnis muss keiner Erwartung an die Form eines Songs oder eines Musikvideos genügen, im Gegenteil, die Attraktivität liegt gerade im brüchigen Verweis darauf.

Noch vor der Formfindung steht aber überhaupt das Erkennen des Materials selbst und seines Potenzials. Das führt zu etwas Entscheidendem, das, wie ich glaube, der Meme-Kultur zugrunde liegt und noch zu wenig erforscht wird: Wir nehmen anders wahr als vor der Organisation des Wissens und der sozialen Beziehung mittels des Internets. Es ist, als begegneten wir den Gegenständen unserer Wahrnehmung weniger mit analytischer Zergliederung, bohrten weniger in sie hinein auf der Suche nach Bedeutung, sondern als streiften wir sie mit Blicken, die immer schon die umliegenden Phänomene im Augenwinkel behalten. Das ist eine Blickbewegung, die dem Scrollen ähnelt (im Unterschied zum Greifen), und ja auch tatsächlich meist mit diesem einhergeht. Jedes Zeichen, jede Verbindung von Zeichen spaltet sich dabei auf in unendliche neue Möglichkeiten von Konstellationen, von denen keine den anderen prinzipiell überlegen wäre.

Dem hermeneutischen Bild der Horizontverschmelzung könnte man das eines ständig mutierenden Planetensystems gegenüberstellen. Wobei die Betrachterinnen, die meist zwangsläufig schon Mitproduzenten sind, weil ihre Blicke wiederum beeinflussen, wie Algorithmen das Angeblickte bewerten und wieder einspielen, intuitiv auch um die Beweglichkeit und Vorläufigkeit ihrer eigenen Position wissen – und auch, dass sie selbst immer schon angeblickt sind, so wie Johnniqua Charles, die im Auge der Kamera – geführt vom Kollegen des Wachmanns, der sie festhielt – den potenziellen Blick der Weltöffentlichkeit erkennt.

Tatsächlich lebt dieses videoförmige Meme davon, dass es nicht auf die Illustration einer Botschaft oder auch nur die Erfüllung einer Absicht reduzierbar ist. Es ist eine kollektive Form, offen für die Benutzung durch viele. Und sie verdankt natürlich John Heartfield weit weniger als der im HipHop entwickelten Kultur des Sampling. Aber der Vergleich scheint mir interessant. Er macht für mich jedenfalls John Heartfield aufs Neue spannend. Vor allem wird der historische Abstand fasslich gegenüber einer Zeit, in der der politische Raum viel eindeutigere Polarisierungen aufwies und in der viel verbissener entlang deutlich konturierter Grenzen gekämpft wurde.

John Heartfield nutzte kulturelle Strategien für politische Zwecke. Im You about to lose your Job-Meme scheint mir die Trennung von Kultur und Politik schwieriger. Das politische Projekt wird als etwas vorausgesetzt, das nicht lange erklärt werden muss. Die kulturelle Form ermöglicht eine kollektive Aufführung der politischen Selbstverständlichkeiten durch Verkörperung vor Kameras. Und das ist natürlich Ausdruck einer gegenüber den 1920er und 1930er, aber selbst den 1990er Jahren radikal verschiedenen Medienkonstellation.

Würden Sie aber den Begriff der Montage hier entschieden zurückweisen? Der Reiz des Memes besteht ja darin, dass Klänge und Bilder aus unterschiedlichen Kontexten montiert werden, wobei keins von ihnen unverändert bleibt. Da sind die durchs Bild des tanzenden Elmo fahrenden Polizeifotos. Und da sind die Nachahmer-Videos auf TikTok, in denen User per Greenscreen vor Trump oder dem Weißen Haus tanzen. Ist das keine Montage?

Könnte man im Hinblick auf Instagram und vielmehr noch TikTok nicht vielleicht sogar von erweiterter Montage sprechen – in der Menschen sich selbst in immer neue Kontexte montieren? Und die Art, wie ihre Ergebnisse vor dem Blick der Betrachter vorüberfahren, sind durch maximale Disruption geprägt: Schnitt, Schnitt, Schnitt. Nur dass diese Schnitte Ergebnisse eines unvorhersagbaren Zusammenspiels der Verhaltensweisen von Nutzerinnen und Algorithmen sind, die ihrerseits neue Trends hervorbringen können, die sich als soziale Spiele beschreiben lassen, die man unter Fremden spielt.

Was war eine Überraschung bei dem Beitrag von Boaz Levin oder eine Entdeckung im Katalog?

Der von Boaz Levin aufgegriffene Leserwettbewerb in der AIZ 1937/38.

Kolja Reichert ist Redakteur für Bildende Kunst im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. 2018 erhielt er den Will-Grohmann-Preis der Akademie der Künste, Berlin.

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Künstlerbeitrag: Anda Kryeziu (Kosovo/Berlin):

Schneiden und Schreien. Die Entstehung des multimedialen Werks co- als Hommage an John Heartfield

Anda Kryeziu, co-, 2016–2017, Film still

Hier geht es zum vollständigen Beitrag (PDF)

Hier geht es zum Videobeitrag „KNM CONTEMPORAARIES – Anda Kryeziu“

Anda Kryeziu, Komponistin und Interpretin, studierte am Konservatorium für Musik in Priština und später an der Hochschule der Künste Bern und der Hochschule Luzern. Sie absolvierte einen Master in Klavier bei Konstantin Lifschitz und in Komposition bei Dieter Ammann. Ihre Musik wurde von internationalen Ensembles bei zahlreichen Festivals aufgeführt, u. a. der Biennale ZeitRäume Basel, dem Festival Mostra Sonora, Sueca, Spanien, dem Festival Aufwind, Wien, den New Music Days, Luzern (2015 & 2016), dem DAM-Festival, Priština, und dem Festival Leicht über Linz, Linz. Ihr Werk umfasst Instrumentalmusik mit und ohne Live-Elektronik, akusmatische Musik, Multimedia- und Musiktheater. Zurzeit setzt sie ihr Kompositionsstudium bei Caspar Johannes Walter an der Musik-Akademie Basel fort.

www.andakryeziu.com


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