Nach der Sintflut – Ein Roman aus dem Jahre 2000, Originalmontage für Gebrauchsgraphik. Monatsschrift zur Förderung künstlerischer Reklame, 1927, © The Heartfield Community of Heirs / VG Bild-Kunst, Bonn 2020.

„Neue Erkenntnisse über Heartfield entfalten sich in Hülle und Fülle“

Gespräch

Gespräch zwischen den Katalogautoren Prof. Dr. Andrés Mario Zervigón, Professor für Fotogeschichte an der Rutgers State University of New Jersey, Cambridge (Massachusetts) und Dr. Angela Lammert (Leitung interdisziplinäre Sonderprojekte, Akademie der Künste, Berlin).

Andrés Zervigón ist Professor der Geschichte der Fotografie an der Rutgers University (USA). Im Jahr 2000 erhielt er sein Doktorat in Kunstgeschichte von der Harvard University (USA). Seine Forschungen konzentrieren sich auf die Wechselbeziehungen zwischen Fotografie, Film und Bildender Kunst. Seine Arbeit fokussiert generell auf historische Momente, zu denen sich diese Medien als unzureichend für die ihnen zugedachte Aufgabe, die visuelle Dokumentation, zeigen. 

Andrés Zervigon setzt sich seit Jahren intensiv mit dem Werkschaffen John Heartfields auseinander und initiierte die Ausstellung „Agitated Images: John Heartfield and German Photomontage, 1920–1938“, die 2006 am Getty Research Institute, Los Angeles, und im Anschluss im Wolfsonian Museum, Miami Beach gezeigt wurde. Sein Buch John Heartfield and the Agitated Image: Photography, Persuasion, and the Rise of Avant-Garde Photomontage erschien 2012 bei der University of Chicago Press.

Angela Lammert bildet zusammen mit Rosa von der Schulenburg und Anna Schultz das Kuratorinnenteam der Ausstellung „John Heartfield – Fotografie plus Dynamit“. Für den Ausstellungskatalog hat Andrés Zervigón den Beitrag „Produktive Beziehungen, John Heartfield und Willi Münzenberg“ verfasst.

 

Eine Anmerkung von Dr. Zervigón zum Katalog:

„Der Ausstellungskatalog John Heartfield – Fotografie plus Dynamit tut, was nur die Akademie der Künste leisten konnte: Er bietet eindrucksvolle Enthüllungen über die materiellen Prozesse, welche das Werk des berühmten Fotomonteurs möglich gemacht haben. Damit bietet er einen neuen Blick auf den größeren Kontext hinter seinem Werk und dessen Rezeption. [...]

Als Anfang 2003 bekannt wurde, dass ich eine Heartfield-Ausstellung für das Getty Research Institut vorbereitete, gab es allgemein zwei Reaktionen. Die Deutschen fragten: „Gibt es noch etwas über ihn zu sagen?“ und die Amerikaner: „Wer ist das?“ Beide Fragen waren vernünftig. [...] Im Katalog zur neuen Heartfield-Ausstellung und im Begleitprogramm der öffentlichen Veranstaltungen findet der/die Leser*in nun beide Ansätze schön verschmolzen.“

 

Angela Lammert (AL): Wie unterscheiden sich amerikanische und europäische Perspektiven auf die Arbeit von John Heartfield?

Andrés Zervigón (AZ): Der berühmte Fotomontage-Meister war sowohl in der DDR, wo er sich nach dem Krieg niedergelassen hatte, als auch in der BRD, wo ihn die 68er-Generation als radikalen Kunsthelden verehrte, über Jahrzehnte ein präsentes Thema gewesen. Das anhaltende Interesse auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs gipfelte 1991 in der großen Retrospektive seiner Werke, die 1993 [unter anderem auch] nach Los Angeles reiste. Bis 2003 war die Erinnerung an Heartfield in Kalifornien weitgehend verblasst, glücklicherweise aber nicht ganz erloschen. Das Getty Institut hatte Heartfield mit Begeisterung gesammelt. Bald wurde deutlich, dass europäische Studien über den Künstler sich auf bestimmte Themen konzentrierten und große blinde Flecken aufwiesen: In der DDR diente Heartfield effektiv als kommunistisches Idol. Dementsprechend konnte über sein schwieriges Verhältnis zur Deutschen Kommunistischen Partei und seine Nähe zum AIZ-Verleger Willi Münzenberg, der 1938 zum engagierten Antistalinisten geworden war, nicht offen diskutiert werden. Im Westen hingegen, sowohl in der BRD als auch im Vereinigten Königreich, stellte die neue Linke die Beziehung von Heartfield zu Münzenberg in den Vordergrund – als Zeichen für die alternative Sichtweise des Künstlers auf den Sozialismus, einen „Dritten Weg“ zwischen den Ideologien. Dieser Ansatz erforderte jedoch ein gezieltes Übersehen von Heartfields Sichtweise auf den vermeintlichen „Sozialfaschismus“ der SPD und ein Ausblenden seiner zahlreichen Montagen, die häufig Stalin huldigten. Roland März im Osten und Eckhard Siepmann im Westen widersetzten sich mutig diesen Tendenzen. Die amerikanische Forschung nähert sich dem Werk des Monteurs mit archivarischer Tiefenforschung und zielt darauf ab, dessen historische Komplexität herauszuarbeiten. In dieser Hinsicht auf Präzision knüpfen wir also an die der deutschen Wissenschaft an.

AL: Sie haben 2012 in Ihrem in Chicago erschienenen Buch über Heartfield seine Arbeit als politische Reaktion auf die gefährliche Fähigkeit der Irreführung durch die Fotografie angesichts einer plötzlichen Allgegenwart in den illustrierten Magazinen, Postkarten und Postern beschrieben . Was ist für Sie das Neue am Akademie-Katalog? Welche Entdeckungen haben Sie gemacht?

AZ: Sie, Frau Lammert, analysieren in beiden Katalogbeiträgen das Verhältnis zwischen den zahlreichen fotografischen Fragmenten der Heartfield-Sammlung und den Originalmontagen, in welche diese Schnipsel eigearbeitet wurden – oder eben auch nicht. In vergleichbarer Weise trägt Anna Schultz Material aus Heartfields britischem Exil zusammen, um zu untersuchen, wie der Künstler sich und seine Arbeit einem britischen Publikum angepasst hat, das mit der deutschen ikonografischen Geschichte nicht vertraut ist. Neue Erkenntnisse über Heartfield entfalten sich in Hülle und Fülle, insbesondere im Hinblick auf seine Jahre im Exil in Prag und London und sein Nachkriegsschicksal in der DDR. Ebenso fasziniert war ich von Jeanpaul Georgens Analyse von Einzelbildern aus Heartfields Film Hohlglasfabrikation von 1918/19, der lange Zeit nicht zugänglich war, weil er nur auf leicht entzündlichem Nitratmaterial existierte und noch nicht umkopiert worden war, sowie von Jeff Walls Überlegungen zu seiner Begegnung mit Wieland Herzfelde 1972. Für einen amerikanischen Heartfield-Forscher ist dieser material turn, also die Zuwendung zu einer Untersuchung der Materialität über so viele Jahrzehnte der Produktion des Künstlers eine faszinierende und willkommene Entwicklung, insbesondere angesichts des [vormals*] schwierigen Zugangs zur Kunstsammlung, die in Meike Herdes’ Essay skizziert wird.

*Dieser Zugang ist jetzt durch den Online Katalog (www.heartfield.adk.de), der als Teil des Gesamtprojektes erstellt wurde dauerhaft gewährleistet.

AL: Welche Rolle spielt die visuelle Strategie des Kataloges?

Schon ein schnelles Blättern durch den Katalog verrät die Ergebnisse. Seite für Seite werden die Originalmontagen und fotografische Fragmente abgebildet, die nur die Akademie der Künste besitzt, die aber bisher weitgehend in engem Zusammenhang mit den endgültigen gedruckten Fotomontagen diskutiert wurden, dem primären Gegenstand der wissenschaftlichen und politischen Diskussion. Im Katalog und in der Ausstellung stehen diese Unikate schließlich als Teil eines wesentlichen materiellen Arbeitsprozesses im Mittelpunkt und erhalten kritische Aufmerksamkeit.

 

Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) fördert das Veranstaltungsprogramm zur Ausstellung, in dessen Rahmen dieses digitale Angebot entstanden ist.

Gespräch zwischen den Katalogautoren Prof. Dr. Andrés Mario Zervigón und Dr. Angela Lammert