27.3.2019, 10 Uhr

Die Akademie der Künste trauert um den Komponisten Hans Wüthrich

Das zeitgenössische experimentelle Musiktheater verdankt dem Komponisten und Sprachwissenschaftler Hans Wüthrich wesentliche Impulse und Innovationen. Hans Wüthrich, geboren am 3. August 1937 in Aeschi (CH), gestorben am 20. März 2019 in Arlesheim (CH) erfand für jedes seiner Musiktheater-, Orchester- und Kammermusikwerke jeweils eine eigene, von niemandem je zuvor gehörte Sprache.

Mit der Aufführung von Das Glashaus (1974/75) in Boswil wurde eine größere Öffentlichkeit auf Hans Wüthrich aufmerksam. Für diese musiktheatrale „Operette“ entwickelte Hans Wüthrich auf der Grundlage von jahrelangen linguistischen Untersuchungen eine neue psychophonetische Sprache, welche gesellschaftliche Kommunikationsstrukturen sehr präzise wiedergibt und die zu Grunde liegenden Machtverhältnisse schonungslos offenlegt. Das Glashaus wird seit den späten Siebzigerjahren bis heute von unterschiedlichen Musiktheater-Ensembles weltweit gespielt und hat – leider – seit 40 Jahren nichts von seiner Aktualität eingebüßt.

Die u. a. bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführten Orchesterwerke Netzwerk I – III (1982–1989) entstanden für Orchester ohne Dirigent. Als einer der ersten Komponierenden experimentierte Hans Wüthrich mit Kommunikationsmodellen, welche die hierarchische Funktion eines Dirigierenden überflüssig machten und die Verantwortung für das musikalische Geschehen auf die beteiligten Orchestermusiker aufteilte – in einem „kybernetisch sich selbst regulierenden Orchester“: Hans Wüthrich verstand seine künstlerische Arbeit nie als ausschließlich auf Musik bezogen, sondern beispielsweise die Netzwerke als gesellschaftliches Modell für eine gerechtere Zukunft.

Die Textgrundlage für Wörter – Bilder – Dinge (1991, für Streichquartett und Stimme) bildet die Erklärung der Menschenrechte von 1948. Hans Wüthrich übertrug diese in ägyptische Hieroglyphen, die er wiederum in verschiedene europäische Sprachen rückübersetzte, und erhielt so einen sehr bildhaften Text, welcher das Anliegen der Erklärung der Menschenrechte auf eine sehr indirekte, poetische Weise transportiert.

In seinen großangelegten Musiktheater-Zyklen Leve (1992) und Happy Hour (1994–1997) schließlich verknüpft Hans Wüthrich in großzügigen musiktheatralen Bögen linguistische Experimente und poetische Passagen (u. a. auf Fernando Pessoa referierend) mit absurd-heiteren Einfällen, gesellschaftskritischen Tableaus und anarchischen Momenten.

Wir verlieren nicht nur einen großartigen, viel zu bescheidenen Komponisten, sondern auch einen großen Denker und Philosophen, dem wir wünschen, dass seine musikalischen und musiktheatralischen Anmerkungen zur Gegenwart auch in Zukunft gehört und verbreitet werden: es würde der Welt gut tun!

Daniel Ott


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