1978

Dieter Goltzsche

Dieter Goltzsche, Foto: Inge Zimmermann

Dieter Goltzsche gehört zu den Berliner Altmeistern der Zeichenkunst. „Das Bildhafte und das Naturhafte muss man als zwei Charaktere im Bild betrachten. Sie liegen, solange am Bild gearbeitet wird, im Widerstreit“, sagt der Künstler, so sei das Zeichnen „eine Disziplinierung vor der Natur“. Er studiert bei Max Schwimmer und Hans Theo Richter in Dresden, geht 1958 als einziger Meisterschüler von Max Schwimmer mit ihm nach Ost-Berlin und arbeitet anschließend freischaffend an Zeichnungen, Druckgrafiken und Aquarellen. Seine Zeichnungen und Texte der letzten 60 Jahre „sind ein beeindruckendes Zeugnis für die Hellsichtigkeit, mit der er dieses Dilemma empfunden hat und ihm treu geblieben ist.“ Im Zeichenprozess selbst findet er die Form. „Kein Bild, in welchem Medium auch immer, ist einfach Abbild.“ (Robert Kudielka, 2006)

„Außer dem Malen und Zeichnen habe ich mein Leben keineswegs geplant, aber es gab kleine Glücke. Ohne Reue: Ich habe immer versucht, die Kunst im Wirklichen zu finden.“

Dieter Goltzsche, 1991

Textbeiträge zur Preisverleihung

„Dass aber Verfestigung und Gelöstheit als Möglichkeiten in seinen Arbeiten spürbar bleiben, gibt ihnen einen weit über das besondere Thema hinausweisenden Gleichniswert, macht sie zu realistischen Zeugnissen für die Erlebnisweise unserer Zeit.“ (Auszug Begründung)

Der Grafiker Dieter Goltzsche gehört zu jenen Künstlern der mittleren Generation, die durch beharrliche Ausformung ihrer künstlerischen Möglichkeiten das Gesicht unserer Kunst immer stärker mitbestimmen.

Der Kreis seiner Thematik umfasst den Menschen und die Landschaft, vornehmlich Berlin in seinem Alltag: Ufermauern, Hinterhäuser, Stadtbahngelände, aber auch die natürliche Umgebung der Stadt: märkische Wasser- und Sandlandschaften. Die Schlichtheit, mit der Goltzsche diese seine Welt auffasst, hält die Mitte zwischen Kargheit und freier Bewegtheit. Das gilt sowohl für den zeichnerischen Duktus seiner Arbeiten wie für das Lebensgefühl, das aus ihnen spricht. Dass aber Verfestigung und Gelöstheit als Möglichkeiten in seinen Arbeiten spürbar bleiben, gibt ihnen einen weit über das besondere Thema hinausweisenden Gleichniswert, macht sie zu realistischen Zeugnissen für die Erlebnisweise unserer Zeit. Besonders überzeugend ist die Herabstimmung der impressionistischen Linieneleganz zu einem spröden, konstruktiv festeren Gefüge in seinen Möwen-Lithografien. Sensibilität erweist sich hier als eine Eigenschaft, die erst in Verbindung mit einer kräftigen Auffassung des Gegenstandes sich recht entfalten kann.

Goltzsches Arbeiten sind bei aller Erlebnisnähe, die symbolische und allegorische Motive meidet, Resultate eingehender bildnerischer Reflexion und Klärung. Darum hat er auch eine ganze Reihe psychologisch vertiefter Porträts schaffen können. Und darum kann er auch, hauptsächlich in seinen Illustrationen, Gruppierungen aufbauen, die zwischenmenschliche Bezüge zum Sprechen bringen.

Dieter Goltzsche ist einer der wenigen, der, aus der akademischen Zeichenschule Dresdens kommend, einen eigenen Zeichenstil entwickelt hat. Bei genauer Kenntnis der deutschen grafischen Kunst und ihrer führenden Vertreter, so Liebermann und Beckmann, ist Goltzsche einer realistischen, von innerer Heiterkeit bestimmten grafischen Darstellung verpflichtet, in der Freude am menschlichen Alltag in Bild und Szene formuliert ist. Goltzsches Zeichenkunst, die stilbildend in der jüngeren Generation gewirkt hat, ist lakonisch und erscheint mit der Diktion von Brecht und dem musikalischen Stil von Eisler verwandt.

Dieter Goltzsche, dessen Leistung bisher unzureichend im öffentlichen Bewusstsein ist, hat ein positives, produktives Verhältnis zur Kunst. Er hat sich in den vergangenen Jahren durch vielfältige Zirkeltätigkeit in Betrieben dafür eingesetzt, Liebe zur Kunst und Verständnis für Kunst zu mehren und zu vertiefen.

Laudatio, vorgetragen von Wieland Förster anlässlich der Preisverleihung 1978:

Um das Werk Dieter Goltzsches gibt es Missverständnisse, die sich vielleicht am leichtesten an seiner Wirkungsgeschichte darstellen lassen. Seit über zwei Jahrzenten auf fast allen Ausstellungen gezeigt – meist ein bisschen neben die Tür gehängt – und in vielen Einzelausstellungen landweit bekannt, ist ihm zwar eine treue Verehrerschaft zugewachsen, aber, auch das soll gesagt werden, ein Publikum geblieben, das ratlos vor seinen Arbeiten steht. Diese Situation ist im Grunde völlig normal und verdiente kaum der Erwähnung, wenn sich in ihr nicht ein zeitspezifisches Phänomen darstellen würde. Zugespitzt lautet es: Auf der einen Seite Huldigung an Naivität und scheinbare Ursprünglichkeit, auf der anderen Ablehnung nach gemutmaßtem geringen artistischen Vermögen. Einfacher: Ob eine Kunst etwas noch nicht oder schon wieder kann. Diese Unterscheidung scheint mir nicht ohne Bedeutung zu sein, weil sich im „Schon-wieder“ künstlerische und geistige Freiheit manifestiert, wohingegen im „Noch-nicht“ ein zwar liebenswerter, meist aber überschätzter Zwang offenbart. In diesem Raum nun bewegen sich die Missverständnisse um Goltzsches Kunst, und man kann anfügen, dass er – und ich glaube ziemlich bewusst – den freien Weg einer hohen artistischen, hellwachen und intelligenten Begabung zur – nennen wir es Einfachheit – gegangen ist. Ein Prozess übrigens, der sich sehr rasch vollzog.

Es ist keine Anekdote, sondern dient der Kennzeichnung seines Talents, dass Hans Theo Richter sein erster Lehrer, nach wenigen Wochen erfreut und ratlos die Frage aufwarf, was er mit dem Goltzsche machen solle, weil er sein auf die Jahre ausgelegtes Lehrpensum schon begriffen und ausgeschöpft hatte. So galt er, kaum 20-jährig, als geradezu gefährlich begabt, und die Frage stand offen – in der Kunst eine geistige Frage – ob es ihm gelingen würde, dem rein Artistischen zu entgehen, ob er sich, wie der Bildhauer Joachim Karsch es nannte, seine „geschickte Hand“ abschlagen könne.

Die Entscheidung über diese erste große Leistung Goltzsches fiel in wenigen Jahren. Helfer war ihm Max Schwimmer, der ihn vom Didaktischen zum Impuls, zum Spiel, zur Linie und Arabeske führte. Holbein, Hogarth, Beckmann vor allem, der ihm Aussagen machte über Volumen, Raumaufbauten, Sprödigkeit, – auch Kirchner, Matisse, der ihm Lehrmeister der Kunst der Linie im Verhältnis von Ding zu Blatt war, Liebermann in seiner berlinischen Nüchternheit, seinem kräftigen Realismus, Heldt und Gilles auch – sie alle waren ihm Lehrer, Orientierungsmarken. Von allen lernte er und ist niemandes Epigone geworden.

Seit 1960 entstand in Berlin, manchmal auf Reisen, ein umfangreiches, fast alle grafischen Techniken und die Aquarellmalerei umfassendes Werk. Die Anfänge sind meist streng in Körperlichkeit und Aufbau, gewinnen jedoch mit den Jahren spielerische Freiheit und Neigung zum Zeichenhaften. Das Hochartifizielle seiner Kunstarbeit taucht gewissermaßen unter in einem herbpoetischen Realismus des Alltäglichen. Goltzsche bedarf keiner „großen“ Motive, er braucht sie auch nicht, weil die allernächste Wirklichkeit für ihn alle Größe besitzt. Kunstfähig ist ihm, was er liebt, was er kennt, was ihm nah ist: Das Gesicht einer Frau, eine Möwe, ein sich waschender Mann, ein Hut und Stuhl, Boot und Baum und Wiesen, Gruppen von Leuten, Strandkörbe, das Licht, auch das. Banales schreckt ihn nicht, er formt es um und ein in die Gefüge seiner Blätter, es stimuliert ihn zu Lösungen ohne Konvention und fördert Aussagen.

Poesie ist im Spiel, ein wenig Ironie, manchmal Komik – doch nie mit dem Richtschwert – mit Liebe eher, Zuneigung und Verständnis, Melancholie auch und immer unbändige Lust – das wollen wir nicht geringschätzen – am zeichnerischen Fabulieren, Lust am Prozess, am Entstehen, Einrichten, Verändern. Dieser Lust aber setzt Goltzsche Grenzen, sie ufert nicht aus in wahllose Fülle, sondern sublimiert sich in seinen besten Blättern zum zeichnerischen Lakonismus, zur gültigen Lösung, der die Mühen der Selbstbeschränkung nicht nachzuweisen sind. Am nächsten steht seiner Kunst – denn als Zeichner steht er allein, sieht man von seinen Nachfolgern ab – der Liedkunst eines Hanns Eisler: dieselbe Prägnanz des Stils, der konzentrierten Kurzform, dieselbe Abneigung gegen Künstelei und falscher Volkstümlichkeit.
Wen also sollte es wundern, dass Goltzsche zu jenen Künstlern gehört, die ohne jede Herablassung, auch ohne große Deklamation mit den Leuten zusammenarbeiten, die gleiche Freude am Zeichnen, Radieren und Holzschneiden haben wie er, Laien, deren unverstellter Optik er großes Zutrauen schenkt, die er lenkt und vor falscher Kunstpose bewahrt.

Die Akademie der Künste der DDR, die Sektion Bildende Kunst, ehrt Dieter Goltzsche mit dem Kollwitz-Preis 1978.